Eva Giovannini Booklet 1
Eva Giovannini Booklet 1
EVA GIOVANNINI:

Wie Lernen durch radikale Weichenstellungen wieder Sinn machen kann

Eva Giovannini

1. Die Generation Alpha ist mitten in einer Krisenzeit geboren
Wenn man sich fragt, wie die Generation Alpha tickt und wie sie wohl ihre Zukunft gestalten wird, merkt man schnell, dass wir es noch mit einem „Überraschungsei“ zu tun haben. Wer weiß schon, was genau sich darin versteckt und welche Welt daraus gebastelt wird. Ich versuche es trotzdem, immerhin springen bei mir als Lehrerin tagtäglich die Zetts und Alphas um mich herum, permanent begleitet von meinen Gedanken, worauf genau wir sie eigentlich vorbereiten. Und in was für eine Zukunft wir sie da schicken. Diesen Schlamassel haben sie nicht mitzuverantworten, sie werden aber irgendwie damit klarkommen müssen.

Im Moment sind die kleinen Alphas schwer beschäftigt mit dem Orientieren in der Welt und dem Heranwachsen an sich, sie unterscheiden sich allerdings von vorherigen Generationen dadurch, dass sie mitten in eine Krisenstimmung, geprägt durch Corona, Krieg und Klimawandel, geboren wurden. Die Generation Alpha folgt der Generation Z. Was zeichnet sie aus? Und wie können wir ihr mit einem modernen Bildungssystem helfen? Eva Giovannini, mit dem Leonardo Schul-Award ausgezeichnete Lehrerin aus Wiesbaden, skizziert die dringend benötigte Transformation des Lernens. Die Lehrerin Eva Giovannini unterrichtet und engagiert sich für die Generation Alpha. „Uns fehlt der Mut für ein Umstyling des Bildungssystems.“ Fordert Schutz und Empowerment statt Lehrplan und Bewertung: Eva Giovannini. Eine Schulklasse bei der Aufführung von Thomas D.s „Gebet an den Planet“. Sie kennen es nicht anders. Im Moment genießen sie das Hier und Jetzt, sitzen gerade auf ihrem Bobbycar, zoffen sich mit ihren Geschwistern, sind das erste Mal verliebt oder zocken in virtuellen Welten. Zukunft ist für sie ein abstrakter Begriff – intuitiv stellen sie sich vermutlich eine gute, sorgenfreie Zukunft vor.

2. Wir Erwachsenen sollten uns die Sorgen machen!
Wir wissen, dass unsere Lebensweise der letzten Jahrzehnte die Gestaltungsmöglichkeiten der Generation Alpha drastisch einschränkt. Wir ahnen, welche Schwierigkeiten auf sie – und uns alle – zukommen.

Es wäre nur fair, wenn wir unsere Aufgabe als Erziehungsberechtigte und Lehrkräfte ernst nähmen und die Kinder auf dieser Reise unterstützen, so gut wir nur können, sie dafür stark und reisetauglich machen.

3. Wir brauchen ein Bildungssystem, das radikal neu gedacht wird
Niemals würden wir sie mit dem Bobbycar auf die Schnellstraße rollen lassen. Was aber die Vorbereitung auf ihre Zukunft betrifft, sitzen wir immer noch viel zu entspannt am Straßenrand und realisieren nicht, dass aus der Spielstraße längst eine Schnellstraße geworden ist. Um aus der Bedrohung wieder eine kindgerechte Umgebung zu machen, braucht es drastische Veränderungen; eine echte Energie- und Verkehrswende wären ein Anfang. So „wie früher“ wird es nicht mehr werden, und deshalb müssen auch die Verkehrsregeln und die Reisevorbereitung angepasst werden. Das Bildungssystem muss neu gedacht werden. Akut kleben wir an der tradierten Vorstellung eines leistungsorientierten Bildungssystems, das wir trotz wissenschaftlicher Gegenentwürfe und unzähliger persönlicher Erfahrungen nicht antasten. Aus irgendeinem Grund herrscht immer noch der Konsens, dass Heranwachsende durch eine auf preußischen Werten basierende Ausbildung optimal vorbereitet sind auf ihre Zukunft.

4. Nur mit Stellschrauben geht es nicht mehr
Sind es die Angst vor Veränderung und das damit verbundene Festhalten an konservativen Dogmen, warum notwendige Veränderungen im Bildungssystem nicht radikal umgesetzt werden? Uns fehlt der Mut, vielleicht auch die Visionen für dieses Umstyling. Wie bei den großen Klimafragen hoffen wir, dass sich durch sanftes Nachjustieren an Stellschrauben ein antiquiertes System an die rasante Entwicklung anpassen könnte. Das wird nicht reichen, um die Generation Alpha mit allem auszustatten, was sie für diesen Weg braucht. Wir müssen als Gesellschaft, als Eltern, aber vor allem auch als Bildungseinrichtungen den Kindern geeignetes Handwerkszeug mitgeben.

Das kann gelingen, indem wir uns lösen von Strukturen, die längst nicht mehr zeitgemäß sind. Und uns radikal von dem alles dominierenden Leistungsgedanken verabschieden, auf dem unser Schulsystem basiert.

5. Lösen wir uns von Fächern und Lehrplan zugunsten von Entwicklung
Wären wir so mutig, uns von Lehrplaninhalten und Fächervorstellungen zu lösen, hätten wir viel Raum gewonnen für individuelles Lernen, könnten uns der Entwicklung von Kompetenzen widmen, kritisches Hinterfragen trainieren und das Begreifen von inhaltlichen Zusammenhänge fokussieren, statt die Heranwachsenden mit Auswendiglernen zu quälen. Stünden nicht mehr der Fächerkanon und die ständige Beurteilung im Vordergrund, könnten Heranwachsende die Chance bekommen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln, eigene Schwerpunkte und Begabungen herauszufinden, sich in realen Situationen auszuprobieren und im besten Fall die Auswirkungen ihres Engagements erleben. Je mehr die Heranwachsenden ihre Lernzeiten selbst mit relevanten Inhalten füllen dürfen, um so schneller werden sie zu mündigen, wachen und aktiven Lernenden. Dann macht Lernen Sinn.

6. Schule soll Selbstvertrauen schenken und auf Veränderungen reagieren
Schule könnte ein Ort werden, der sich von Bewertungspädagogik verabschiedet und stattdessen Schutz und Empowerment bietet. Ein Ort, der auf die Bedürfnisse der Generation Alpha eingeht, auf die sich ständig verändernde Welt flexibel reagiert und nicht im Korsett antiquierter Lehrplänen feststeckt. Dann können wir ihr im besten Fall eine Riesenportion Selbstvertrauen mitgeben und sie Selbstwirksamkeit spüren lassen, indem wir sie ernst nehmen in ihren Anliegen, ihren Ideen und sie unterstützen, etwas zu bewegen und zu verändern.

Aber selbst wenn wir alle das getan haben, steht da immer noch ein großes Fragezeichen in den Alpha-Augen: Warum habt ihr nicht früher dafür gesorgt, dass dieser Weg für uns nicht so beschwerlich wird? Vieles, was uns heute selbstverständlich und unantastbar erscheint, wird für sie dann ziemlich absurd wirken.

Sie werden es abstrus finden, dass wir kurze Strecken mit dem Flugzeug geflogen sind, Billigflüge subventioniert, ein Tempolimit blockiert und an Kohle, Öl und Gas festgehalten haben, anstatt mit aller Kraft CO2 -Emissionen zu reduzieren.

Warum wir uns so sehr auf das Prinzip Hoffnung, auf technologische Entwicklungen und die Wut und den Kampfeswillen der Generation Z verlassen haben. Sie werden uns Bequemlichkeit, Wohlstandsopportunismus und Profitinteresse vorwerfen. Zu Recht.

7. Die Zukunft kann auch zum Lerninhalt werden
Seit dem Zukunftsfestival im September 2022 hat sich strukturell an den Schulen nichts verändert – natürlich nicht. Kaum ein Bereich wandelt sich langsamer. Natürlich sind die Themen Zukunftsgestaltung und Klimakrise präsent, aber dieser in die Jahre gekommene Zug rollt einfach weiter auf seinen rostigen Gleisen.

Klar, sie verpassen Unterrichtsinhalte, aber könnte der Klimaprotest nicht aktiv in den Schulalltag eingebunden werden? Gibt es schon ein Schulfach, das sich mit den Global Goals beschäftigt? Das wäre doch mal eine Initiative wert.

Es mag illusorisch klingen, doch rein rechnerisch ist fast jede und jeder von uns mindestens Papa, Tante, Opa, Mama oder eben Lehrkraft. Und rein rechnerisch sind wir damit ziemlich viele, die das Kind nicht mit dem Bobbycar auf die Schnellstraße rollen lassen würden. Zeit zu zögern haben wir nicht.

Wenn wir uns also die Frage stellen, wie die Generation Alpha ihre Zukunft gestalten wird, müssen wir uns fragen, welchen Anteil wir daran haben und ob wir unsere Möglichkeiten schon ausgeschöpft haben. Ich würde sagen: Da ist noch Spielraum :) Let’s get started!